#otd1945.06.23
„Vo sind unsere Elterin? ir Nazimörder …“
Am 23. Juni 1945 trafen 350 Jugendliche und Kinder aus Buchenwald in der Schweiz ein. Rabbiner Herschel Schacter, der als Angehöriger der US-Armee die befreiten Juden in Buchenwald betreute, begleitete sie. Was ging dem voraus?
Am 22. April 1945, elf Tage nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, trat der Jüdische Hilfsausschuss mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit: „Rettet den Rest der jüdischen Jugend Mitteleuropas!“ Am selben Tag schrieb Herschel Schacter ein Hilfegesuch an das Büro des Œuvre de secours aux enfants (OSE) in Genf. Das jüdische Kinderhilfswerk mit Sitz in Paris reagierte sofort, jüdische Organisationen in der Schweiz, in Frankreich und in den USA suchten nach Möglichkeiten, die Jugendlichen aufzunehmen. Die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) und das Rote Kreuz halfen.
Die Mehrzahl der 904 Minderjährigen, die Mitte April 1945 unter den Überlebenden des Lagers gezählt wurden, war älter als 15 Jahre. Die wenigen Kinder unter ihnen überlebten durch die Solidarität politischer Häftlinge. So waren die Jüngsten, die Vierjährigen Janek Szlajfstajn und Stefan Jerzy Zweig, im Häftlingskrankenbau und im Kleinen Lager versteckt worden; den 11-jährigen Menek Schiller verbargen sowjetische Häftlinge in Block 30, sein zwei Jahre älterer Bruder überlebte mit anderen Kindern unter dem Schutz der jüdischen Häftlinge des Blocks 23; der 6-jährige Isaak Goldblum kam im „Kinderblock 66” im Kleinen Lager unter und der 7-jährige Israel Lau im „Kinderblock 8”.
Die meisten jüdischen Jugendlichen in Buchenwald waren Waisen ohne Zuhause. Die Brüder Schiller fanden ihre Mutter im ehemaligen Außenlager Meuselwitz wieder. Einzelne schlossen sich Heimfahrten ihrer nationalen Gruppe an. So fuhr der gerade 17-jährige Leopold Huppert mit den befreiten Tschechen im Mai 1945 nach Prag. Auf Schloss Štiřín fanden er und andere Jugendliche aus Theresienstadt, Dachau und Buchenwald Aufnahme. Dort befand sich eines der Erholungsheime, die der Pädagoge Přemysl Pitter zur Aufnahme elternloser jüdischer Jugendlicher in leerstehenden Schlössern eröffnet hatte.
Am 5. Juni 1945 verließ der erste Personenzug mit jüdischen Jugendlichen und Kindern den Bahnhof Weimar. 427 Jugendliche – Jungen aus Buchenwald und Mädchen aus Bergen-Belsen – fuhren in den französischen Ort Écouis, wo man sie herzlich aufnahm. Sie sollten sich erholen, Verbindung zu Angehörigen aufnehmen und über ihren weiteren Weg entscheiden. Neben Frankreich und der Schweiz nahm auch Großbritannien im Sommer des Jahres Hunderte jüdische Jugendliche auf.
„Vo sind unsere Elterin? ir Nazimörder…“ schrieb der 15-jährige Josek Dziubak, einer der Jungen von Block 66, mit Kreide an einen der Züge nach Frankreich. Es dauerte zwei Jahre, bis er Verwandte fand, die ihn in die USA holten. Ein anderer aus der Gruppe, Robert Wajcman, sagte viele Jahre später zu dem Foto: „Joe hat wirklich für uns alle gesprochen. Wir alle hatten gerade begonnen zu verstehen, wie wenige unserer Familienmitglieder noch am Leben waren.“
(Harry Stein)
Literatur:
Judith Hemmendinger, Die Kinder von Buchenwald, Rastatt 1987.
Ronald Hirte u. Fritz von Klinggräff, Israel, fragen nach / Europa. Gespräche über einen fernen, nahen Kontinent, Weimar 2020.
Pavel Kohn, Schlösser der Hoffnung. Die geretteten Kinder des Přemysl Pitter erinnern sich, München 2001
Madelaine Lerf, „Buchenwaldkinder“ – eine Schweizer Hilfsaktion. Humanitäres Engagement, politisches Kalkül und individuelle Erfahrung, Zürich 2010.