#otd1945.06.15
Strafverfolgung

Am 15. Juni 1945 vermeldeten Zeitungen im In- und Ausland die Verhaftung von Hermann Pister, dem letzten Kommandanten des KZ Buchenwald. In einem Lager für Kriegsgefangene in der Nähe von München hatten amerikanische Ermittler ihn einige Tage zuvor entdeckt und in Gewahrsam genommen. Wie viele andere SS-Männer hatte er versucht, in der Masse deutscher Kriegsgefangener unterzutauchen.

Die Absicht, die deutschen Verbrechen zu ahnden und die Täter zur Verantwortung zu ziehen, hatten die Allliierten bereits vor Kriegsende formuliert. In den befreiten Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie an Tatorten wie Gardelegen, Abtnaundorf oder Nammering nahmen amerikanische Ermittler deshalb unmittelbar nach der Ankunft der US-Truppen ihre Arbeit auf. Sie sicherten Beweise, vernahmen Zeugen und erstellten Fahndungslisten.

Bis Ende 1945 hatten die Amerikaner mehrere Hundert Verdächtige festgenommen, gegen die sie wegen Verbrechen in Buchenwald und Mittelbau-Dora ermittelten. Zusammen mit Tausenden anderen wurden sie im ehemaligen KZ Dachau inhaftiert. Seit Sommer 1945 diente es als zentrales Kriegsverbrecherlager in der US-Besatzungszone.

Nach zweijähriger Vorbereitung fanden 1947 vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau die größten Prozesse wegen Verbrechen in Buchenwald und Mittelbau-Dora statt. Angeklagt waren über 80 Personen, die meisten ehemalige SS-Männer, zudem ehemalige Funktionshäftlinge und einige Zivilisten wie Ilse Koch, die Frau des ersten Buchenwalder Lagerkommandanten, oder Georg Rickhey, der frühere Generaldirektor der Raketenfabrik im Kohnstein.

Die Prozesse in Dachau endeten mit 28 Todesurteilen, von denen weniger als die Hälfte vollstreckt wurden, zahlreichen Freiheitsstrafen und einzelnen Freisprüchen. Fast alle Haftstrafen wurden jedoch in den folgenden Jahren reduziert. Ende der 1950er-Jahre befand sich keiner der in Dachau Verurteilten mehr in Haft. Große Teile der Bevölkerung hatten sich mit den Inhaftierten solidarisiert und ihre Freilassung gefordert. Viele von ihnen kehrten nahtlos in ein bürgerliches Leben zurück.

In beiden deutschen Staaten und vor ausländischen Gerichten fanden in den folgenden Jahrzehnten teils aufsehenerregende Prozesse wegen Verbrechen in Buchenwald und Mittelbau-Dora statt. Der Großteil der Ermittlungsverfahren wurde jedoch ergebnislos eingestellt.

Insgesamt wurde von den Tausenden SS-Männern und Aufseherinnen, die in Buchenwald oder Mittelbau-Dora und ihren Außenlagern Dienst getan hatten, nur ein kleiner Bruchteil vor Gericht gestellt. Auch die Männer und Frauen, die sich in den Wochen vor Kriegsende an den zahllosen Verbrechen an KZ-Häftlingen beteiligt hatten, wurden fast nie strafrechtlich belangt.

(Michael Löffelsender)

Literatur:

Katrin Greiser, Die Dachauer Buchenwald-Prozesse. Anspruch und Wirklichkeit – Anspruch und Wirkung, in: Ludwig Eiber u. Robert Sigel (Hg.), Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945-1948, Göttingen 2007, S. 160-173.

Michael Löffelsender, “A particularly unique role among concentration camps”. Der Dachauer Dora-Prozess 1947, in: Helmut Kramer, Karsten Uhl u. Jens-Christian Wagner (Hg.), Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz. Täterschaft, Nachkriegsprozesse und die Auseinandersetzung um Entschädigungsleistungen, Nordhausen 2007, S. 152-168.